top of page
Home: Blog2
Suche

Zwischenstation: Raus aus der Blase, rein in den Kühlschrank.

  • Autorenbild: vevefaitlaboum
    vevefaitlaboum
  • 5. Juli 2020
  • 9 Min. Lesezeit

Dieser Eintrag fühlt sich etwas befremdlich an, weil es mir irgendwie total egozentrisch vorkommt, meine ganzen Gedanken der letzten Monate öffentlich zu verschriftlichen. Im Gespräch ist das ja eher ein Austausch, der sich direkt ganz anders anfühlt, weil das Gegenüber reagiert und eigene Perspektiven einbringen kann. Als ich letztens gesagt hab, dass ich durch die Arbeit echt noch mal voll ins Nachdenken über meine Moralvorstellungen etc. gekommen bin, wurde ich dafür leider etwas ausgelacht, vielleicht fühle ich mich deswegen auch komisch hierbei. Aber egal, es ist bestimmt cool, das jetzt mal alles festzuhalten und in ein paar Jahren nochmal anzuschauen. Und ich glaube auch, dass viele Leute in meinem sozialen Umfeld solche Fabrikerfahrungen eben nicht kennenlernen.


Die letzten fünf Monate sind für mich irgendwie eine Zwischenstation, die eigentlich kürzer geplant war, aber nun etwas ausgedehnt wurde. Für drei Monate, in denen ich möglichst viel Geld verdienen wollte, hat es sich natürlich nicht so gelohnt, sich einen 'richtigen' Job zu suchen. Also ab zur Zeitarbeitsagentur und zum Glück klappte das auch alles relativ schnell - seit Ende Januar arbeite ich in der Konfektionierung bei Overnight, einer Tochterfirma von Coppenrath & Wiese. Kuchen, Fertiggerichte, Brötchen, alles was das Tiefkühlherz begehrt. Man legt, stopft, schmeißt bei Kühlschranktemperaturen dann verschiedene Sorten des gleichen Kuchen-Sortiments, so wie man ihn verpackt im Laden bekommt, in 9-er, 12-er, zig-er Kartons, die auf dem Fließband vorbeilaufen. Nach 200 Kartons wird aufgerückt, einen Platz weiter. Das Ganze 5-6x die Woche, in 7-8,5h Wechselschicht: Nacht, Spät und Früh. Währenddessen stehen etwas erhöht am gleichen Platz auch Leute, meist Männer, welche die Tische wieder mit neuer Ware aus vollen Paletten bestücken. Was den Trott auflockert: Palettenwechsel. Wenn ein Auftrag fertig ist, kommt der nächste. Bitte keine Schnitzel oder Sahnetorten!

In den ersten paar Wochen habe ich das Ende sehr herbeigesehnt. Die körperliche Arbeit natürlich null gewöhnt und Rückenschmerzen wie n Feldarbeiter. Bis Corona kam, hatte ich nur Nachtschichten, doch irgendwann musste jeder dann bei der gleichen Truppe bleiben, damit kein Austausch mehr stattfinden konnte. Darüber bin ich heute echt froh, so konnte ich gute Kontakte knüpfen. Zwischendurch war ich super zufrieden damit, der körperliche Ausgleich und die Routine tun mir sehr gut. Das Geld kann ich zum Tilgen der Bafög-Schulden gut gebrauchen. Mittlerweile bin ich diese Zwischenstation allerdings echt leid. Ich will, dass es endlich weiter geht, auch wenn mir die Routine und das Miteinander mit ein paar der Kollegen wohl fehlen werden.


Für meine berufliche Laufbahn relevante Skills lerne ich hier gerade nicht so viel. Die Arbeit ist eintönig und beizeiten körperlich echt super anstrengend, weil ich mich irgendwann entschieden habe, auch 'oben' zu arbeiten, heißt die Tische mit neuer Ware zu bestücken - mal was Anderes und man muss als große Person nicht ständig halb vornübergebeugt am Band stehen. Täglich mein persönliches Fitnessstudio, auch nicht so schlecht.

Aber darüber hinaus glaube ich schon, dass ich persönlich 'ne Entwicklung mitgemacht habe. Aktuell lerne ich noch mal so viel darüber, wer ich sein will, und bin zum Nachdenken angeregt von den verschiedensten Dingen. Ob das nun daran liegt, dass man bei dieser Arbeit einfach viel Zeit zum Nachdenken hat, oder an den menschlichen Begegnungen, die ich dort hatte und habe oder allgemein an den verrückten Zeiten dieser Welt, ich hab keine Ahnung. Wahrscheinlich ist es ein Zusammenspiel.


Generell bin ich sehr sehr dankbar, diese Einblicke erlangt zu haben. Es hat sich ein totaler Respekt vor den Menschen eingestellt, die diese Arbeit Tag für Tag machen - ohne die Perspektive, dass es nur eine Zwischenstation ist. Diese Leute sind so krass auf das Funktionieren ihres Körpers angewiesen, das wurde mir erst jetzt richtig klar. Müsste man mir ein Bein amputieren, das würde noch lange nicht bedeuten, dass ich nicht auch EINEN Fuß fassen könnte in meiner Branche. Aber dort arbeiten Leute teilweise schon seit über 10 Jahren am Band und verdienen dafür gerade so viel Geld, dass es für eine Person reicht. Und der Job verschleißt den Körper schon nicht wenig. Hände und Handgelenke sind total beansprucht und auch der Rücken beschwert sich nach ein paar Jahren. Das Wissen, dass man sehr wahrscheinlich komplett ohne Job dasteht, sollte man dort nicht mehr arbeiten können, muss echt belastend sein.

Die Schicht wird meist auf 2 oder 3 Bänder aufgeteilt und man arbeitet eigentlich oft mit der gleichen Truppe, die sich im Kern wenig ändert. Nur mal hier oder da jemand mehr oder weniger. Mein Bandleiter kommt aus dem Irak und ist 2015 geflüchtet. Außerdem kommen weitere Geflüchtete unter anderem aus Syrien und dem Sudan. Die anderen an meinem Band sind Deutsche, und das sind auch die Leute, die dort schon seit Jahren arbeiten. Mit der anderen Bandleiterin arbeite ich selten, dort sind hauptsächlich Menschen aus Polen und einige von denen sprechen kaum Deutsch. Man versucht, die Arbeiter so zu verteilen, dass die Verständigung klappt.


In den ersten Wochen habe ich hauptsächlich beobachtet, da hatte ich auch noch nicht den Anschluss, weil ich jede Woche wieder mit anderen Leuten in der Schicht war. Die Arbeit setzt sich zusammen aus Interaktionen auf einfachstem Level, ein Rad muss ins andere greifen, damit alles reibungslos klappt. Das bedeutet vor allem Zusammenarbeit und kollegiale Mithilfe, dass man ohne zu fragen füreinander einspringt. Du siehst, dass jemand struggelt und hilfst aus. Und dann hab ich auch nach und nach bemerkt, dass einige Mitarbeiter dort verschiedenen Kollegen unterschiedlich respektvoll, hilfsbereit und freundlich begegnen. Dass Zusammenarbeit und Respekt manchmal eine Frage von Belohnung und Bestrafung ist. In der zweiten Woche sagte mir einer der Bandleiter: 'Wenn du zu lange hier bist, lernst du gemein zu sein'. Ich hab das zuerst nicht richtig verstanden und dachte, vielleicht mag er einfach niemanden sonderlich. Aber mittlerweile verstehe ich, was er meint. Es ist, als ob viele Leute ihr Verhalten daran anpassen, wie andere ihnen begegnen. Als müsste man sich eine freundliche und hilfsbereite Zusammenarbeit erst verdienen. Dabei versuchen diese Leute nicht, sich mal in die anderen hineinzuversetzen oder einfach zu akzeptieren, dass alle Menschen verschieden sind. Schon mit den kleinsten Aktionen oder Nicht-Aktionen kann einem die Arbeit am Band und beim Depalettieren schwer gemacht werden. Und das wird definitiv genutzt, gerade von den Leuten, die schon länger dort sind. Da zählen die Ansprüche an die eigene Arbeitsweise nicht so viel wie der Triumph, dem Nächsten einen reinzuwürgen für den eigenen Frustabbau.

Die Beobachtung hat mich echt zum Nachdenken gebracht, weil ich auch irgendwie mit dem Glaubenssatz aufgewachsen bin, dass Respekt, Zuwendung und Freundlichkeit direkt mit meinem Verhalten zusammenhängen und dass es daher auch ok ist, andere für ihr Fehlverhalten zu 'bestrafen', sei das durch nun durch emotional distanziertes Verhalten oder aktive Handlungen. Aber dann kommt man ja nie aus diesem gegenseitigen Testen, ob der andere meine Freundlichkeit verdient, heraus, und auch das bestrafende Verhalten findet dann kein Ende. Da hab ich schon realisiert, dass ich meinen Glaubenssatz loswerden möchte. Sowohl, weil man sich Freundlichkeit nicht erst verdienen sollte, als auch, weil ich mich nicht in eine Negativspirale reinbegeben möchte. Es ist auch irgendwie entspannter, wenn man einfach die Person ist, die man sein möchte, ohne ständig das Verhalten aller Mitmenschen bewerten zu müssen, und sich zu fragen ob die denn jetzt Respekt und Freundlichkeit verdient haben.


Natürlich will ich mich auch nicht verarschen oder wortlos schlecht behandeln lassen. Mich dagegen auszusprechen fällt mir trotzdem irgendwie echt schwer. Das merke ich besonders, weil ich offenbar die Einzige dort bin, für die Sexismus ein Thema zu sein scheint. Dieser geht komplett von den höher gestellten Kollegen aus. Da ist der stellvertretende Schichtleiter, der mich immer mit 'na Hübsche' anspricht statt meinen Namen zu benutzen. Wenn ich den ersten Schichtleiter frage, ob ich nächste Woche eingesetzt bin und arbeiten kommen soll: "Ob du kommst oder nicht, damit hab ich ja nix zu tun, aber du darfst gerne erscheinen". Ha. Ha. Ha. Oder der bisherige Supergau. Ich werde ins Schichtleiterbüro gebeten, um eine Aufgabe außer der Reihe zu übernehmen. Dort sagt dann der eine Schichtleiter "Ach, du kannst das auch machen. Eigentlich wollten wir Judi [ist ein Mann] dafür nehmen, aber.. ich sag mal so, besser dich 'nehmen' als Judi 'nehmen'.." *zwinker*. Beide Schichtleiter höhöhöen belustigt und ich kann nur stumm und fassungslos da stehen. Erst nachdem ich dort raus bin, wird mir klar, was gerade passiert ist und ich bin entsetzt und unfassbar frustriert darüber, dass ich nicht besser reagiert habe. Fast wünsche ich mir schon, dass so etwas noch einmal vorkommt, weil ich diesen Scheißtypen klar machen will, dass so ein Verhalten nicht in Ordnung ist, dass Frauen keine fickbaren stücke Fleisch sind, an denen sich gut die eigene Männlichkeit zur Schau tragen lässt. Moralisch und argumentativ bin ich denen nämlich haushoch überlegen.

Weshalb diese Männer meinen, dass solche Kommentare total ok und normal sind, kann ich mir vorstellen nachdem ich mich bei Gelegenheit einmal mit einer etwa 50-jährigen Kollegin ausgetauscht hab. Sie findet sowas nicht schlimm, sind doch Komplimente. Lol. Besagte Kollegin bringt, so hab ich vor ein paar Tagen bemerkt, regelmäßig selbst Sexismus provozierende Sprüche, die sich etwa auf dem obigen Niveau anzüglicher Umdeutung von Wörtern wie 'kommen' und 'nehmen' bewegen. Da wundert es mich nicht, dass man solche Sprüche zu hören bekommt, die man das letzte Mal lustig fand, als man noch pubertär nach Anerkennung egal welcher Art lechzte. Ich glaube, dass es, je öfter man sich gegen so 'nen Scheiß wehrt, einfacher wird, direkt in der Situation angemessen zu reagieren. Gute Basisübungen also, juchei!


Eine Sache, die mich echt mega schmerzt, ist die Beobachtung, dass meine deutschen Kollegen täglich sehen, dass Geflüchtete ganz normale Menschen sind, mit denen man lachen und sich austauschen kann, die ihren Lebensunterhalt ehrlich bestreiten und hart arbeiten können. Diese deutschen Kollegen sind gleichzeitig jene, die 'armes Deutschland' vor sich hin murmeln, wenn jemand keine korrekte deutsche Grammatik beherrscht. Die sich lustig machen über den Klang der arabischen Sprache und vor seinen Augen nachäffen, wenn einer gut gelaunt vor sich hin tanzt beim Musik hören. Die im Pausenraum, im sicheren Glauben, dass von den Betroffenen eh niemand das Video gesehen hat, verlauten lassen, wie sehr Xavier Naidoo mit seinem Bullshit-Wölfe-Song doch den Nagel auf den Kopf trifft. Die meinen, durch 'diese ganze George Floyd Sache' würde das Thema Rassismus ja viel zu sehr aufgeblasen und das nicht minder größere Problem sei ja, dass Polizisten, Rettungssanitäter und Feuerwehrleute keinen Respekt mehr von der Gesellschaft entgegengebracht bekommen. Die den 'Witz' machen, dass man im Dunkeln nur die Augen des Schwarzen Kollegen mit dem schwarzen Mundschutz sehen könne.

Mit den gleichen Leuten muss man dann über ihre Überzeugung reden, dass es Geister und Aliens garantiert gibt. Dass Corona eine Verschwörung ist, und wir uns ja alle noch wundern werden, wenn das mal ans Licht kommt. Dass man sich ja darauf einlassen würde, dass es den Klimawandel gebe, aber dass der menschengemacht sein soll - ne, das glaubt der Heinz nicht! Was wissen schon Forscher, die sich Jahrzehnte lang mit dem Thema beschäftigt haben? Heinz hat keinen Bock, Schuld zugesprochen zu bekommen oder sein Verhalten anzupassen, also gibt es das Problem schlicht nicht.

Ich muss zugeben, dass ich mich die ersten Male einfach ausgeschwiegen habe, als solche Themen aufkamen - gerade auch Alltagsrassismus. Da war ich mit meinen Gedanken irgendwie noch bei meinem eigenen Wohlergehen, weil erst sehr kurz dort war. Damals hatte ich nur zu den deutschen Kollegen Kontakt und ich dachte, bevor ich hier 3 Monate stehe und null Anschluss habe, halte ich einfach den Mund, wenn es um diese Themen geht, bei denen sich die Leute eh nicht umstimmen lassen wollen, weil dann eine Säule ihres Selbstwerts wegbricht. Und dann passierte der Mord an George Floyd und irgendwie konnte ich ab da nicht mehr vor mir selbst verbergen, wie opportunistisch und unsolidarisch mein Verhalten in diesen Situationen war. Ich muss echt sagen, das Hörbuch Exit Racism von Tupoka Ogette auf Spotify hat bei mir extrem nachgehallt und ich empfehle wirklich jeder und jedem, sich das mal zu Gemüte zu führen, selbst wenn man denkt, man sei ja gar nicht rassistisch.


Es tat meinem Sinn für die Realität sehr gut, solche Alltagsrassisten und -sexisten zu treffen. In der Bubble hört man natürlich ab und and Mal davon, aber halt eher aus fremden Erzählungen oder den Medien. Deren Ablehnung gegenüber 'denen da oben' kann ich nun viel besser nachvollziehen. Denn natürlich fühlt man sich vom Rest der Gesellschaft abgehängt, wenn du durch deinen Job deinen Körper kaputt machst für einen Lohn, der gerade so zum Leben reicht. Natürlich gibt es diese gefühlte Ungerechtigkeit auch ganz real. Nur sind eben die Schuldigen im Weltbild dieser Menschen falsch gewählt. Deren Lösung der gegenwärtigen Probleme ist viel zu einfach gedacht und darauf ausgelegt, den eigenen Selbstwert zu erhöhen und gefühlten Kontrollverlust zu kompensieren. Dabei lässt man natürlich außer Acht, dass man selbst sein ganzes Leben lang Entscheidungen getroffen hat, die eben dorthin geführt haben, wo man heute steht. Ich selbst hab auch keine schlaue Lösung, das hier sind nur meine Gedanken dazu.


Seither gab es noch keine neuen sexistisch oder rassistisch geprägte Situationen, in denen ich wirklich etwas hätte sagen können. Vielleicht spüren die Menschen, dass sie nun etwas warten müssen, bis ihre rassistischen Witze und Ansichten wieder resigniert überhört werden. Ich hoffe allerdings, dass die Gelegenheit sich noch mal bietet. Mittlerweile ist es mir egal, ob die deutschen Kollegen mich weiterhin in ihren Reihen sehen - mit Hariri, Mustafa, Salé, Judi und Abdullah verstehe ich mich eh besser. Es macht auch echt Spaß, ihnen bei Fragen zur deutschen Sprache weiterzuhelfen, das eine oder andere arabische Wort zu lernen und mal ganz andere Gespräche zu führen als gewohnt. Wie ich mich gefreut hab, als der schüchterne Typ aus dem Sudan, der sonst nur andere Arabischsprachige anspricht, von sich aus ein Gespräch mit mir angefangen hat. Es tut irgendwie gut zu wissen, dass ich nahbar wirke. Mit dem Bandleiter bin ich tatsächlich mittlerweile befreundet, wir haben ab und an was unternommen und er hat mir von seinem Leben im Irak und seiner Flucht erzählt. Es ist nicht an mir, seine Geschichte preiszugeben, aber eine Aussage hat sich eingeprägt: "Leute sind neben mir durch Bomben gestorben. Ich kenne keine Angst mehr."


Nie hätte ich gedacht, dass diese Zwischenstation doch so wichtig für mich sein würde, dass sich viele grundlegende Themen nochmal neu definieren, welche mir im normalen Trott meiner studentischen Blase nie auf diese Weise begegnet sind. Dafür bin ich echt unendlich dankbar und will die Erfahrungen nicht missen.


 
 
 

Comments


Home: List
Home: Subscribe
IMG_20191118_114734_HDR_edited.jpg
Home: Contact

©2020 by Aufbruchstimmung. Proudly created with Wix.com

bottom of page