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Ein Jahr USA rekapitulieren: Mehr als Patriotismus, Waffen und Burger

  • Autorenbild: vevefaitlaboum
    vevefaitlaboum
  • 6. Okt. 2021
  • 5 Min. Lesezeit

Waffen, Oberflächlichkeit und Patriotismus, das sind drei der typischen Klischeevorstellungen, die mir mit am häufigsten entgegengebracht werden. Natürlich haben die auch in gewissen Maßen ihre Berechtigung - die Liebe zum Bier und der Hang zur Pünktlichkeit ist einer Vielzahl der Deutschen ja auch nicht abzusprechen. Daher verzeiht mir, wenn ich mal von 'den Deutschen' und 'den Amerikanern' spreche. Da bin ich mir sehr bewusst darüber, dass es natürlich immer individuelle Unterschiede gibt. Und doch lässt sich nicht absprechen, dass es gewisse Grundtendenzen gibt, die sich auch erkennen lassen.

Ich möchte hier deshalb von meinen persönlichen Erfahrungen berichten, die von den typischen Klischees abweichen oder auch mal nicht so bekannte Perspektiven zeigen. Sichtweisen, die sich wahrscheinlich eher nicht im zweiwöchigen Roadtrip entlang der West Coast ergeben, sondern erst nach und nach ihren Weg an die Oberfläche finden. Dieser Artikelentwurf liegt schon bestimmt ein halbes Jahr hier herum, und immer mal wieder doktere ich daran herum. Die meisten Erkenntnisse kamen mir auch tatsächlich erst innerhalb der letzten 3-4 Monate.


Bevor ich loslegen kann, find ich aber schon wichtig zu sagen, dass meine Erfahrungen natürlich vollkommen davon geprägt sind, welche Teile von Amerika ich bisher (nur) gesehen habe, welche Menschen sich ohnehin schon in Aidans und damit meinem engeren Kreis bewegt haben und besonders auch wie das Aufwachsen in einer eher kleinen Stadt ist. Ich sehe ganz andere Unterschiede als meine Freundin, die ursprünglich aus Berlin kommt. Aber jetzt ans Eingemachte...


Eine der schönsten Eigenschaften, die ich quasi überall erlebt habe, ist die unglaubliche Offenheit, auf noch unbekannte Menschen zuzugehen. Das habe ich als total warmherzig empfunden und hat mich sehr willkommen fühlen lassen. Beim ersten Besuch in Amerika ist mir das direkt aufgefallen. Zu Weihnachten kamen alle zusammen und wirklich jeder aus Aidans Familie war super offen und interessiert. Das mag bei denen noch mehr der Fall sein als bei anderen Amerikanern, weil die Familie so überdimensional groß ist, dass es alle gewöhnt sind, häufiger mal neue Lebens(abschnitts)gefährten vorgestellt zu bekommen..😉


Diese sehr freundliche Grundeinstellung gegenüber jeglichen Gesprächspartnern ist das, was im Allgemeinen häufig als die 'Oberflächlichkeit der Amis' kritisiert wird. Das ergibt sich verständlicherweise daraus, dass sie gern mal sagen: "Klar, lass uns bald treffen" oder "Wollen wir am Wochenende zu XY gehen?" und letzten Endes diese Pläne aber nicht realisiert werden. Damit habe ich mich am Anfang auch sehr schwer getan, die fehlende Verbindlichkeit von Worten fand ich schwierig einzuschätzen. Man muss sich vor Augen führen, dass die Maxime aller Interaktionen hier ist, dass das Gegenüber sich gut und wertgeschätzt fühlt. Und ganz besonders im Kontext von alltäglichen Interaktionen wie an der Supermarktkasse, in Bus und Bahn oder an der Bar gefällt mir diese Einstellung mittlerweile so unglaublich gut.

Dass man mit Jedermann einfach ins Gespräch kommen kann, ist so erfrischend. Eine dir fremde Person sagt dir im Vorübergehen, dass sie dein Outfit mag, schenkt dir einfach ein Lächeln oder beginnt ein Gespräch über Gott und die Welt. In der Bahn wurde ich vorgestern noch drauf angesprochen, ob ich nicht diejenige sei, die auch in der Woche zuvor auf der gleichen Strecke sowas schönes Senfgelbes gestrickt hätte. Und jap, das war ich. Finde ich schon beachtlich in so einer riesigen Stadt wie Chicago, nicht diese Anonymität zu haben. Niemand hat etwas davon, wenn jeder mit einer Grundmuffeligkeit aus dem Haus geht, die Geh-mir-nicht-auf-den-Sack Attitüde zur Schau trägt und diese Grundmuffeligkeit abends wieder mit nach Hause bringt. Dieses Interesse an anderen Menschen und ihren Leben, Ansichten und Erfahrungen haben Menschen in Deutschland natürlich auch, jedoch ist es nach meiner Einschätzung eher eine individuelle Charaktereigenschaft als das hiesige ungeschriebene Kulturgesetz der Freundlichkeit.

Wo mir die Freundlichkeit dann allerdings doch zu oberflächlich wird, ist im Privaten. Von der gleichen Person zum 10. Mal gefragt zu werden, was ich plane zu arbeiten, sobald ich die Greencard habe, frustriert mich. Klar ist mir bewusst, dass die Welt sich nicht um mich dreht - alle Anderen haben auch genug auf dem Schirm, was wichtiger ist. Aber solche Generalitäten wieder und wieder mit nahen Verwandten oder Freunden zu besprechen, empfinde ich irgendwann als etwas respektlos. Dann merke ich nämlich, dass kein ehrliches Interesse dahinter steckt, sondern eben nur dieses Bedürfnis, Konversation zu machen, was bei engeren Beziehungen, finde ich, nicht nötig ist.


Auch in Punkto Aufrichtigkeit in solchen privaten Verhältnissen bin ich dann doch lieber bei der geraden Ehrlichkeit, die ich in Deutschland mehr erlebt habe. Die ehrliche Meinung bei Problemen kann man ja auch so vermitteln, dass das Gegenüber nicht zwei Wochen geknickt ist. In dem Punkt lassen sich die zwei Pole dann vielleicht gut vereinen - freundliche Grundhaltung und Wertschätzung auch beim Äußern von Kritik. Heureka! (Ist mir bewusst, dass dies keine neue Erfindung ist.)


Generell habe ich aber auch das Gefühl, dass verschiedene Modelle von Lebensweisen, Ansichten und Erfahrungen in den USA mit mehr Leichtigkeit koexistieren können. Wie gesagt, es kann auch damit zusammenhängen, dass hier in Chicago tatsächlich so etwas wie der viel beschriebene 'Melting-Pot' existiert. So viele verschiedene gesellschaftliche Gruppen koexistieren, interagieren und vermischen sich, dass es einfach ein buntes Durcheinander ist. Klar - so wie nichts in der Welt perfekt ist, gibt es auch hier die typischen Probleme einer Metropole. Aber das ist schon ein echt schöner Effekt, den ich so aus Ibbenbüren nicht kenne, Dortmund dann schon eher.

Gerade beim Thema Religion sind Viele in Deutschland ja eher 'Pseudo-Christen. Heißt mit christlich geprägten Werten aufwachsen, doch der wirkliche Glaube wird kaum praktiziert. Das hat natürlich auch regionale und persönliche Unterschiede, doch meine Bubble ist schon zum Großteil so geprägt und es soll ja um meine persönlichen Eindrücke gehen, daher verzeiht mir mögliche Pauschalisierungen. Diese Art des Aufwachsens gibt es hier auch häufiger und zum Großteil sind Aidans und meine Freunde alle ähnlicher Auffassung was Religion und Glaube angeht.


Zum ersten Mal bin ich hier befreundet mit Menschen, deren Meinung in gewissen Punkten komplett konträr ist zu meiner. Ob das nun mein persönliches Versäumnis ist oder an der Grundhaltung liegt, die ich erlernt habe, weiß ich nicht. Aber die Akzeptanz, mit der hier die Meisten einander begegnen, war für mich etwas Neues. Ich bin immer noch dabei zu lernen, mir das initiale Bedürfnis abzutrainieren, Lebensweisen oder Einstellungen abzuurteilen. Es gibt nicht das eine Richtig oder Falsch. Vielleicht ist das 'ne Erkenntnis, die mich etwas spät ereilt, aber ich hab schon das Gefühl, es hat was damit zu tun, dass ich hier nun ein Jahr gelebt habe.

Warum in Deutschland gefühlt so gern über Andere abgeurteilt wird, ist ja zunächst psychologisch recht einfach zu erklären: Identitätsstiftung. Durch die Bewertung und Abgrenzung von Anderen wird das Selbstbild klarer umrissen und man fühlt sich einer Gruppe zugehörig.

Aber warum hab ich den Eindruck, dass es in Deutschland ausgeprägter ist als anderswo? Darüber hab ich echt lange Gedanken gemacht. Vielleicht sind meine Ideen auch weit hergeholt und totaler Quatsch, aber ich denke, dass es vielleicht mit Deutschlands Geschichte zusammen hängen könnte. Viele unserer vergangenen Generationen sind mit Misstrauen aufgewachsen. Das find spätestens wohl mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus an, ging mit der Nachkriegszeit und Entnazifizierung weiter und schließlich mit der DDR als Überwachungsstaat.

Das sind über 50 Jahre, in denen es teils sehr gefährlich sein konnte, aus der Reihe zu tanzen. Dem vorgegebenen Ideal zu entsprechen war quasi überlebenswichtig. Da guckt dann jeder nach links und rechts, um sich abzugleichen, ganz automatisch. Nach dem Motto 'Ist der Nachbar Nazi genug?' zum Beispiel. Diese über Generationen eingeübten und weitergegebenen Tendenzen wird man, denke ich, als Gesellschaft nicht von heute auf morgen wieder los. Mein Eindruck davon in Deutschland ist auch garantiert wie schon gesagt vom kleinstädtischen Leben beeinflusst, denn eine Freundin aus Berlin konnte das in diesem Ausmaß nicht bestätigen. Fand ich allerdings irgendwie mal 'ne interessante Überlegung.


Und nun zum Schluss ein unerwartetes Leckerli: Die Toiletten an Autobahntankstellen sind gratis, immer mit genügend Klopapier ausgestattet und sauber!

Das war's für heute, ich mach mich jetzt auf den Weg zum Flughafen. Bis bald... 🙃

 
 
 

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