Wieder eine US-Wahl hautnah
- vevefaitlaboum
- 29. Okt. 2020
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 20. Nov. 2020
29.10.2020. Noch sechs Tage bis zur Wahl.

Es ist Herbst. Der ist auf jeden Fall kürzer als in Deutschland, einfach schneller vorbei. Die letzten Blätter sind noch an den Bäumen, aber wohl nicht mehr zu lange. Liegt vielleicht am Wind der Windy City. Oft auch regnerisch. Nicht gerade einladend. Wenn meine Nase aber doch mal wieder Frischluft schnuppern will und ich mich zu einem Spaziergang aufmache, dann laufe ich hier momentan an vielen Vorgärten vorbei, anhand derer man klar die politische Einstellung erkennen kann. Hier ist es ganz normal, seine Unterstützung auch ganz offen zu zeigen, wenn man sich nicht selbst in einer Partei engagiert. Hier in Chicago habe ich aber bisher nur Biden/Harris Schilder entdecken dürfen – was ein Glück.

Chicago ist nicht schon immer eine Hochburg für die Demokraten gewesen, aber seit Bill Clintons Sieg in 1992 hat die Stadt und auch der Staat Illinois jedes Mal blau gewählt. Das hat scheinbar etwas damit zu tun, dass es hier eine Metropolregion ist – New York und Kalifornien geht es ähnlich. Davor war Illinois ein Swing-State. Dieser Eintrag soll einfach meine Gedanken bezüglich der Wahl schildern, einen kleinen Einblick geben, was mir auffällt. Das hat natürlich keine Allgemeingültigkeit und kann auch in keinem Fall für ganz Amerika gelten, aber auch so eine Momentaufnahme kann ja ganz interessant sein.
Zum großen Thema rund um die Frage „Wie dumm können die Amis bitte sein und immer noch Trump wählen?“ will ich mich gar nicht äußern. In Deutschland mögen wir zwar nüchternere Kanzler besser finden als die hiesige Showmanship, aber vor gegenseitigen Schuldzuweisungen und Mimimi-Wählerschaft sind wir offensichtlich ja auch nicht gefeit. Daher will ich an dieser Stelle mal auf ein paar gute Podcasts zum Thema hinweisen, die sich mit dem Thema ausführlich beschäftigt haben und vielleicht auch voreingenommenen Deutschen näherbringen können, was einige Leute hier dazu bringt, republikanisch zu wählen.
Deutschland3000 – ‘ne gute Stunde mit Eva Schulz: Ingo Zamperoni – Warum wählen Menschen Trump? https://open.spotify.com/episode/4AL3CEFWE5jnsoKy1GViLS?si=T6ywrIxuRTq73TK8pVlS0g
Amerika Übersetzt: „Er macht den besten Job von allen“ (Und Kamala!) https://open.spotify.com/episode/5nKIeMhb7wg0BHy85gdj45?si=ZJkE9uEFQoyK9R2Wt-w9gA → zeigt sehr anschauliches Beispiel von dem, was Ingo Zamperoni im ersten Podcast sagt.
Mission Money – Geld. Motivation. Erfolg.: USA Experte: Darum ist Trump ein Meister-Politiker und so stehen seine Chancen bei der Wahl https://open.spotify.com/episode/2Xz1CNwKVqpNU0w5mUOIEM?si=aw9s5kBRRQOQ4m1AdLGCOQ
Dass der Präsident eigentlich nicht tragbar ist, weiß ich genau so wie alle, die sich beim besten Willen nicht vorstellen mögen, für eine Zeit in den USA zu leben. Aber ich gehe ja auch nicht hierher, um endlich hautnah mitzuerleben, wie schlimm dieser Mensch wirklich ist. Und auch nicht, um mich ständig positionieren und rechtfertigen zu müssen, wenn Menschen von meinen Plänen hören. Das ist in letzter Zeit zum Glück nicht mehr so häufig passiert. Und trotzdem habe ich manchmal so ein ganz verrücktes Gefühl, dass ich Amerika verteidigen muss, um meine persönliche Entscheidung zu verteidigen. Woher das genau kommt, weiß ich gar nicht wirklich. Vielleicht eine Mischung aus bisher erfahrenen Reaktionen und meiner eigenen gemischten Meinung über das Land. Da merke ich manchmal nach einigen Gesprächen mit Freunden oder Familie, dass ich mich kaum traue, etwas Negatives anzumerken, weil ich befürchte, dass direkt meine komplette Entscheidung in Zweifel gestellt wird. Ob das wirklich passieren würde – keine Ahnung, wahrscheinlich nicht.
Die bisherigen TV-Duelle haben wir uns erspart. Das war eine ziemlich schnelle Entscheidung. Die Meinung zu den beiden Kandidaten steht eh fest: Katastrophe vs. Schadensbegrenzung. Irgendwelche progressiven neuen Erkenntnisse waren dort ja eh nicht zu erwarten. In eineinhalb Stunden kann man so viele schönere Sachen machen als freiwillig Frust über Frust anzuhäufen. Wichtige, absurde, nervige Passagen bekommt man hinterher sowieso von Twitter serviert. Dann lieber The Great British Bake Off – Wohlfühlfernsehen mit Kuchenduft.
03.11.2020. Wahltag.

Ob hier alles ruhig sei, wurde ich ein paar Mal gefragt. Total. Ob man sich sicher fühlt. Jap, alles wie immer. Um ehrlich zu sein, habe ich sehr wenig von irgendwelchen Turbulenzen mitbekommen. Bezie-hungsweise null, nada. Was schon auffällig war, waren die ganzen Hinweise auf Social Media. Egal ob Twitter, Instagram oder Facebook - überall war oberhalb des Feeds ein Banner eingeblendet, über welches man an mehr Infos zur Wahl kommen konnte. Bei Snapchat gab es unter anderem sogar einen Button, der einen zum Anfordern eines Wahlzettels geleitet hat. Das war schon etwas neu für mich. Vielleicht liegt das daran, dass es in Amerika kein Meldesystem gibt und man sich als Wähler proaktiv registrieren muss. Damit auch alle aufmerksam werden, von diesem Recht Gebrauch zu machen, gibt es denke ich wirklich überall diese Infos.

Hat mich ein bisschen überrascht, aber darüber hinaus war es einfach, die anstehenden Wahlen zu ignorieren. Gern wäre ich etwas engagierter oder politisch interessierter. Jedes Mal, wenn ich mich willentlich informiere und einlese, News verfolge, breitet sich ein ganz unangenehmes Gefühl bei mir aus. Das betrifft nicht nur die US-Politik, sondern ganz allgemein. Ich glaube, es liegt daran: Mich trifft es auf ganz komische Weise, wenn Politiker*innen sprechen und ich den Eindruck gewinne, da werden ganz viele schwurbelige Worte verwendet, um am Ende fast nichts zu sagen, oder allein um sich gegenüber bestimmten Positionen 'reinzuwaschen'. Gelaber, das mit dem Hinter-gedanken funktioniert "Was kann ich sagen, das möglichst wenig Leute auf die Palme bringt und gleichzeitig Anklang bei breiter Masse findet?". Mit Ehrlichkeit oder tatsächlich zielführender Kommu-nikation hat das nach meinem Eindruck nicht viel gemein. Von daher war ich froh, den ersten Wahlwerbespot erst am letzten Sonntag gesehen zu haben, als wir bei Aidans Tante und Onkel Football geschaut haben. Solange man sich also nicht absichtlich den Diskussionen und Berichten ausgesetzt hat, konnte man das ganze elende Thema easy vermeiden.
Komplett uninformiert will man ja aber auch nicht bleiben, deshalb haben wir uns abends im Wohnzimmer zusammengefunden, um die Berichterstattung zu verfolgen. Das lief dann so: Moderator sagt, dass man noch nichts sicher weiß, erst 5% der Stimmen sind ausgezählt. In einem Staat führt Trump 13 : 1 Stimmen, wow. Werbung. Ein alter weißhaariger Opa als Doktor verkleidet wirbt für freshes Mundwasser. Creepy Grinsen mit zu weißen Zähnen. Und wir sind zurück. Ah, mittlerweile sind es 6% und noch immer kann man keine genaue Aussage treffen, da noch lange nicht genug Stimmen für eine Prognose ausgezählt sind. Werbung - creepy grinsender Mundwasser-Opa.
Zwischendurch findet Aidan ein erheiterndes Video, das Trump auf Twitter geteilt hat. Fast wie 'ne Parodie wirkt das, aber nein, vollkommen ernst gemeint. Leider tanzt er genau so, wie man sich Trump tanzend vorstellt. Wieder Berichterstattung - nichts kann man sicher sagen. Mundwasser-Opa. Man weiß nix. Opa. So geht das Ganze hin und her, bestimmt eineinhalb Stunden, bis wir merken, dass es zu knapp ist, als dass wir lange genug wach bleiben können, um ein Ergebnis zu wissen. Wir hauen ab - eine Folge Great British Bake-Off schauen. Da weiß man wenigstens am Ende, wer gewinnt und wer verliert. Und: Kuchen!
05.11.2020. Zwei Tage nach der Wahl.
Das Kindergartenkind im Election-Game ist beleidigt, weil es nicht verlieren kann. Hier wird doch gemogelt. Wäre genial, wenn es sich vielleicht einfach entscheiden würde, nicht mehr mitzuspielen. Aber das ist vielleicht wirklich zu viel Hoffnung.. Gestern Abend sind im 'Loop' in Chicago auf jeden Fall viele Menschen auf die Straße gegangen, um gegen Trumps vorzeitige Erklärung des Wahlsiegs und den Versuch, die Auszählung zu stoppen, zu protestieren. "Count every vote!" Davon hat man hier allerdings nichts mitbekommen.
Die allgemeine Stimmung hier im Haus ist vorsichtig hoffnungsvoll. Nachdem Wisconsin und Michigan beide den Wechsel zu blau vollzogen haben, warten wir sehnsüchtig auf Arizona und Nevada. Dort sind es jeweils 2 und 0,6% Vorsprung für Biden. Aber auch in Georgia und Pennsylvania schmilzt Trumps Vorsprung langsam dahin. Viele Briefwähler scheinen demokratisch gewählt zu haben. Am Freitag werden wir wohl endlich ein vorläufiges Ergebnis haben. Daumen gedrückt.
20.11.2020. Zweieinhalb Wochen nach der Wahl.
Das große Zittern ist endlich vorbei. Eine verrückte Zeit war das und allgemein eine sehr angespannte Stimmung hier im Haus, auf den Straßen hier allerdings alles entspannt wie immer. Ständig die Auszählungen aktualisieren und auf jedes Prozentpünktchen hoffen. Gleichzeitig war es auch ein Gefühl von 'na und?'. Denn Grundlegendes wird sich hier jetzt nicht wirklich ändern, es wird lediglich zurück zur alten Normalität gehen. Hoffentlich mit weniger Nachrichtensendungen, die mit den Worten beginnen 'der amerikanische Präsident äußerte sich auf Twitter xyz'. Immer noch ein alter weißer zu reicher Mann an der Spitze, der ebenfalls nicht frei ist von Sexismus. Aber zumindest, so vermutet man doch, ist er nicht pathologisch krank - das ist doch schon mal ein Anfang! Als irgendwann das Ergebnis offiziell verkündet wurde, war es schon eine echt tolle Stimmung hier.

Aidan war draußen unterwegs und hat super viele Leute mit Sekt herumlaufen sehen. Beim Betreten des Ladens fragte der Verkäufer direkt 'Na, brauchst du auch etwas Bubbly?' Und das gab es dann auch. Alle Mitbewohner haben sich 'nen Sekt genehmigt und auf Trumps Abwahl angestoßen. Das Wetter war super genial, also sind wir nochmal raus zu einem kleinen Spaziergang. Auf einer großen Wiese saßen viele kleine Gruppen junger Menschen zusammen und haben alle ebenfalls das Wetter und Wahlergebnis gefeiert. Wir also direkt zum nächsten Supermarkt, zwei Bier geholt und uns zwischen die Menschen gesetzt. Perfektes Westparkfeeling, naja.. minus Grillduft.
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